Konkret verhandelt die Erste Kammer des Europäischen Gerichtshofs ab 9.30 Uhr und zwar im Sitzungssaal IV auf der Ebene 6 C-209/12 (Generalstaatsanwalt ist Sharpston). Das Urteil könnte weitreichende Bedeutung für Millionen von abgeschlossenen Lebensversicherungen auch in Deutschland oder in Österreich haben. In der EU werden Lebensversicherungen primär zur Absicherung des Alters abgeschlossen (private Altersvorsorgeversicherungen).
Auch wenn seit bald 25 Jahren die "EU-Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung)" regelt, dass eine Lebensversicherungspolice in den ersten 14 bis 30 Tagen vom Versicherungsnehmer wieder gekündigt werden darf, maximal innerhalb der ersten 12 Monate, herrscht darüber bis heute in der Europäischen Union Uneinigkeit.
Konkret geht es dem Europäischen Gerichtshof nun zunächst einmal um die rechtsverbindliche Auslegung des Art. 15 und dort um den Absatz 1 Satz 1. In diesem Artikel heißt es konkret:
"Artikel 15: ( 1 ) Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags... geschlossen wird, von dem Zeitpunkt an, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten... Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen."
Neben den Aussagen des Artikel 15 der EU-Richtlinie 90/619/EWG geht es auch um die Klärung und rechtsverbindliche Auslegung des Artikel 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung). Hier heißt es: "Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang II Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen."
In diesem Buchstaben A im Anhang II werden die Angaben konkretisiert und unterteilen sich in 16 Unterpunkte. So muss jeder Versicherungsmakler, muss jede Versicherung dem Versicherungsnehmer vor Abschluss einer Lebensversicherungspolice oder sonstigen Direktversicherung folgende Angaben mitteilen (wörtliches Zitat aus der EU-Richtlinie 90, Anhang II):
A: (a.1) Name der Gesellschaft und ihre Rechtsform, (a.2) Name des Mitgliedstaats, in dem sich der Hauptsitz und gegebenenfalls die Agentur oder Zweigniederlassung befindet, die die Police ausstellt, (a.3) Anschrift des Hauptsitzes und gegebenenfalls der Agentur oder der Zweigniederlassung, die die Police ausstellt. (a.4) "Beschreibung jeder Garantie und jeder Option.
Des Weiteren ist in der EU-Richtlinie im Anhang II, Abschnitt A geregelt:
(a.5) Laufzeit der Police, (a.6) Einzelheiten der Vertragsbeendigung, (a.7) Prämienzahlungsweise und Prämienzahlungsdauer, (a.8) Methoden der Gewinnberechnung und Gewinnbeteiligung, (a.9) Angabe der Rückkaufswerte und beitragsfreien Leistungen und das Ausmaß, in dem diese Leistungen garantiert sind, (a.10) Informationen über die Prämien für jede Leistung, und zwar sowohl Haupt- als auch Nebenleistungen, wenn sich derartige Informationen als sinnvoll erweisen, (a.11) Für fondsgebundene Policen: Angabe der Fonds (in Rechnungseinheiten), an die die Leistungen gekoppelt sind.
Des Weiteren ist in der EU-Richtlinie im Anhang II, Abschnitt A geregelt:
(a.12) Angabe der Art der den fondsgebundenen Policen zugrundeliegenden Vermögenswerte, (a.13) Modalitäten der Ausübung des Widerrufs und Rücktrittrechts, (a.14) Allgemeine Angaben zu der auf die Policenart anwendbaren Steuerregelung, (a.15) Bestimmungen zur Bearbeitung von den Vertrag betreffenden Beschwerden der Versicherungsnehmer, der Versicherten oder der Begünstigten des Vertrags, gegebenenfalls einschließlich des Hinweises auf eine Beschwerdestelle; dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, (a.16) Das auf den Vertrag anwendbare Recht für den Fall, dass die Parteien keine Wahlfreiheit haben oder, wenn die Parteien das anwendbare Recht frei wählen können, das von dem Versicherungsunternehmen vorgeschlagene Recht.
Konkret geht es dem Europäischen Gerichtshof um die Klärung der Frage, ob die Lesart einiger EU-Mitglieder, wonach die bisherigen über 20 Jahre alten EU-Richtlinien-Regelungen es zuließen, dass Versicherungspolicen nicht nur in 14 bis 30 Tagen, sondern in einem Zeitraum von bis zu einem Jahr wieder gekündigt werden dürfen, tatsächlich rechtskonform ist oder nicht. Ausschlaggebend ist dabei die Ablaufsfrist ab der Zahlung der ersten Versicherungsprämie.
Dass es auch nach 20 Jahren immer noch keine EU-weite Rechtssicherheit in der Frage gibt, in welchem Zeitraum ein Verbraucher, seine neue Versicherung wieder kündigen darf, liegt vor allem daran, dass die Versicherungskonzerne das geschickt abzuwenden wussten. Dabei lief das Prozedere häufig so ab:
Wollte ein Versicherungsnehmer im ersten Jahr seine Versicherungspolice, beispielsweise seine Lebensversicherung, kündigen, versuchten europaweit häufig die Versicherungsunternehmen dem Verbraucher einzureden, er dürfe das gar nicht und folglich müsse er auf bis zu 90% seiner einbezahlten Versicherungsbeiträge verzichten. Die Versicherungskonzerne sprachen und sprechen bis heute dabei gerne von einem Risikoabschlag.
Doch das Risiko hatten sich die Versicherungskonzerne häufig selbst zuzuschreiben. Beispiel: Bezahlten sie für eine über 20 Jahre laufende private Altersvorsorge dem Makler eine Vermittlungsprovision für die Lebensversicherung in Höhe von 4.500 Euro, war das Geld erst einmal weg (sofern das Geld nicht auf mehrere Jahre verteilt ausgeschüttet wurde).
Kündigte nun aber der Versicherungsnehmer seine Lebensversicherung bereits innerhalb des ersten Jahres der Vertragslaufzeit, drohte der Versicherung im schlimmsten Fall, dass der Makler das Geld nicht mehr zurückzahlte und die Versicherung möglicherweise auch noch auf einem Schaden sitzen bleibt. Allerdings gilt beispielsweise in Deutschland, dass Makler das Geld in dem Fall dann zurückbezahlen müssten.
Dennoch wollten sich in den vergangenen 20 Jahren die Versicherungskonzerne auf kein Prozessrisiko vor dem Europäischen Gerichtshof einlassen. Denn hätten sie dieses getan, hätte es sein können, dass der EuGH die Kündigungsfrist für eine Lebensversicherung oder sonstige Direktversicherung nicht nur auf ein Jahr festschreibt, sondern darüber hinaus.
Deshalb bezahlten zahlreiche Versicherungen ihre ehemaligen Kunden aus, um das Kündigungsrecht nicht doch noch höchstrichterlich in der EU klären lassen zu müssen.
Doch damit ist es nun vorbei. Spricht der Europäische Gerichtshof nun am Donnerstag Klartext, könnte das bedeuten, dass die Versicherungsnehmer entweder eine noch längere Kündigungsfrist eingeräumt bekämen (was wünschenswert wäre), oder dass die Kündigungsfrist sogar unter die bisherige Frist fällt. Bislang gilt in Deutschland eine Kündigungsfrist von 14 Tagen bis zu einem Jahr.
Doch es geht vor dem Europäischen Gerichtshof nicht nur um eine endgültige rechtsverbindliche Regelung der Kündigungsfristen. Vielmehr geht es auch darum, zu klären, in welchem Umfang Versicherungsmakler (das können auch Versicherungs-Vergleichsportale sein) und die Versicherungen selber vor Vertragsabschluss über die Rechte und Pflichten, die ein Versicherungsvertrag mit sich bringt, aufklären müssen.
Dabei deutet sich immer mehr an: Die Zeiten, in denen die Versicherungskonzerne nur auf ihre AVBs (Allgemeinen Versicherungsbedingungen) verweisen können, könnten sich dem Ende zuneigen. Bislang legten Versicherungen oder Versicherungsmakler gerne den Kunden als Basis für die Anbahnung eines Vertragsabschlusses lediglich eine rechtlich nicht verbindliche Zusammenfassung der AVBs vor. Anklicken: Presseinformation Europäischer Gerichtshof