Schämen fürs Bücherregal: Wer bleibt wenn alles clean digital ist?

Heute habe ich es wieder getan: Gut 80 Bücher trug ich drei Stockwerke hinunter und legte sie heimlich in unseren Eingangsflur des Berliner Mehrfamilien-Altbaus im Stadtteil Prenzlauer Berg. Auf die obersten Bücher klebte ich - froh, dass mich keiner sah - einen Zettel und schrieb drauf: "Zu verschenken". Es waren durchaus gute Bücher darunter. Das Spektrum reichte von "Die Pest" (Albert Camus) über "Es" (Steven King), "Les Miserables" (Victor Hugo) bis hin zu Welt-Fantasy-Klassikern wie das "Rad der Zeit" von Robert Jordan (30 Bände) oder den kunstvoll gebundenen Gesammelten Werken von Goethe. Jetzt lagen sie hier im kalten Flur auf der Good-Bye-Rampe. Dabei bin ich mittlerweile ein Wiederholungstäter. Still und leise leere ich meine Bücherregale seit gut fünf Jahren. Von einst fünf Bücherregalen ist nur noch eins übrig. Eine Sammlung von rund 2.000 Werken ist zusammengeschrumpft auf eine Anzahl Bücher, die in ein Billy-Regal von Ikea passen. Das Regal hatte ich mir einst zu Münchner Studentenzeiten an der Ludwig-Maximilians-Universität gekauft. Noch steht es bei mir unter Bestandsschutz. Das gilt auch für einen weißen 20-Euro-Hocker von Ikea. Doch auch das wird sicher ändern.

Foto: netz-trends.de
Bloß keine Spuren hinterlassen und bloß keinen Blick zurück wagen. Unser Leben wird immer cleaner.

Es ist ein seltsames Gefühl. Aber ich lebe immer virtueller, so dass sicherlich auch bald die Übrigbleibsel aus der Ikea- und Studentenzeit dran glauben müssen. Einst galt ein großes Bücherregal als ein Muss unter der bürgerlichen Schicht. Heute kommt es mir so vor, als würde man in gar nicht mehr fernen Jahren ein Bücherregal als Bestandteil des Wohnzimmers wie die Möbel aus der Biedermeierzeit bewundern. Man würde im Museum davor stehen und staunen. Aber vor allem würde man staunend fragen, wie man nur so vollgemüllt leben konnte. Denn Papier empfinden immer mehr Menschen als Müll.

Mir tut das im Herzen durchaus weh. Aber ich kann nicht anders, als mit dem digitalen Zeitgeist zu gehen. Ja, meine Wohnung wird immer leerer. Bald sind nur noch der Esstisch, das Bett, ein 2,70 Meter langer moderner Kleiderschrank, eine große italienische Ledercouch (die mir vor zehn Jahren eine Sabine in einem Berliner Designladen verkaufte; ihren Namen erinnere ich noch), eine Stereoanlage (natürlich super flach, kein peinlicher Turm), ein Glas-Schreibtisch, ein Bürostuhl und der flache Fernseher an der Wand die markantesten Dinge in der Wohnung.

Es ist ein bisschen wie in einem Hotelzimmer. Von einst zwei Pflanzen habe ich eine jetzt auch entfernt. Mal schimmelte die Erde, dann roch sie im Frühjahr etwas unangenehm, ganz so, als wolle sie bestäubt werden. Aber bitte nicht in meiner Wohnung, dachte ich manchmal und machte das Fenster zu. Dann wurde das mit den Geruchs-Ausdünstungen der Pflanze etwas besser. Doch jetzt ist sie eh weg – weggeschmissen in den Mülleimer für biologischen Abfall.

Manchmal frage ich mich: Was bedeutet es eigentlich psychologisch, physiologisch und für die Philosophie, wenn der Mensch bald in einer fast leeren Wohnung lebt. Denn alles wird ja virtuell und digital – auch bei mir.

Man könnte schon einmal dieses Fazit ziehen: Der Hang zu einer leeren Wohnung oder zumindest zu einer spartanisch eingerichteten Wohnung (wir reden nicht von "billig"), bedeutet gleichzeitig eine scheinbare Entwertung von realem Besitz. Galt früher, je größer das Bücherregal, desto deutlicher das Signal, "Hey Leute, ich habs geschafft", so gilt heute eher: Wer ein großes Bücherregal hat, hat es nicht geschafft. Der ist von gestern. Dennoch: Jedes Mal, wenn ich wieder Bücher die Treppen runter schleppe, sie einfach so im Hausflur ablege und ein billiges Zettelchen dran klebe, "zu verschenken", frage ich mich durchaus: Leeren wir dabei nur unser Bücherregal oder entleeren wir uns auch selber?

Völlig desillusioniert bin ich, seitdem Bertelsmann vor wenigen Tagen bekannt gab, die gedruckte Enzyklopädie Brockhaus nach über 200 Jahren einfach einzustellen. Jetzt haben wir nur noch die Einträge auf Wikipedia von 20-Jährigen Administratoren, die ihr Halbwissen in scheinbar demokratischen Wikipedia-Diskussionsforen verteilen und entscheiden, was online bleibt und was nicht. Einst habe ich so einen Typen angerufen und ihn darauf hingewiesen, dass er als Administrator Unsinn verbreitet in einem Fachgebiet in dem ich zufällig promoviert habe und etwas mehr Ahnung habe als er. Korrigiert hat er den Beitrag nicht. Ich könne ja mal im Forum posten, meinte er. Hab ich gemacht. Gebracht hat der virtueller Eintrag nichts.

Galt in einem Buch das Credo, möglichst keine Fehler zu verbreiten, schert sich im Netz, auf Wikipedia, letztlich keiner darum. Seit dem kürzlichen Google-Update wird Wikipedia sogar noch höher im Google Search Index gerankt. Selbst Gerichte schreiben jetzt hier ab und nutzen das für ihre Urteilsbegründung ungeniert. Obwohl ich weiß, wie brüchig und häufig zweifelhaft die Informations-Welt im Netz ist, verschenke ich an meine Nachbarn jetzt aber auch das berühmte Kindlers Literaturlexikon in gebundener Buchform. Auch hier ist es möglich, dass es das in einigen Jahren gar nicht mehr gibt. Eigentlich müsste ich da vorbauen, den Bestand schützen. Tue ich aber nicht.

Interessant ist, dass das Digitale sehr gerne mit sauber, clean, in Verbindung gebracht wird. Ein Freund von mir, ein Unternehmer, zeigte mir vor wenigen Tagen voller Stolz seine neue Büroetage in einem modernen Gebäude direkt an der Elbe in Hamburg. "Wir nennen das cleaned table hier", erklärt er mir. Jeden Abend sollten die Schreibtische aller Mitarbeiter faktisch leer sein. Nur noch der Mac solle drauf stehen, das Telefon, Stifte und vielleicht noch ein bisschen Papier-Schreibkram.

Ok, das kennen wir zwar seit bald zehn Jahren aus Zeitschriften wie "Ihr schönes Büro"… Doch es greift immer mehr um sich. Manchmal ist es fast beängstigend, wie neutral wir arbeiten sollen in der Firma. Da finde ich es richtig sympathisch, dass ich einen erfolgreichen sächsischen Jungunternehmer kenne, dessen Schreibtisch immer aussieht wie bei Hempels unterm Sofa. Das ist nicht clean, aber individuell. Man sieht, dass da jemand lebt, dass da jemand arbeitet.

Wenn die Wohnungen jetzt aber werden, wie ein cleaned Office desk, dann folgt zwangsweise die Frage: Verschwindet das Private? Den privaten Menschen zeichnete aus, dass er oder sie seine oder ihre Wohnung vollmüllen durfte: Mit Kitsch, mit Büchern, mit Spielsachen, mit alten Klamotten, mit dutzenden (unnützen) Duschgels und Shampoos, auch mit Quietscheentchen auf dem Badewannenrand.

Doch auch das ist zunehmend verboten. In einer modernen Digitalwohnung darf nichts mehr herumliegen und unnütz sein. Helga, die Mutter von meinem besten Freund, sagt immer, alles was in einer Wohnung gegenständlich ist und nicht wirklich gebraucht wird (zum sitzen, essen, schlafen, sich waschen, vieleicht noch Sport machen oder den Hobbys dient), das seien doch alles nur Staubfänger. Alles Gegenständliche fängt bekanntlich Staub. Das ist schon wahr. Aber: Ein Schloss ist ja auch voll von Staub und wir freuen uns, dass es das Schloss noch nach all den Jahrhunderten gibt.

Jetzt ärgern sich manche Wohnungsbesitzer schon darüber, dass in ihrem Bad noch das WC-Papier so unschicklich undigital an der Wand hängt und selbst die schlanke Ultraschall-Zahnbürste muss immer öfters böse Blicke der Digital-Anhänger ertragen. Keine Frage: Das Private ist auf dem Rückzug, muss verschwinden, die Wohnungen müssen entmenschlicht werden. Das ist nicht nur dem Digitalzeitalter geschuldet, sondern auch der Arbeitswelt: Immer auf dem Sprung zum nächsten Job mit möglichst wenig Gepäck. Bloß nicht zu viel Gegenständliches mit sich herumschleppen, alles muss frei und luftig beweglich sein. Bloß nichts aufbewahren, das an das Vergangene erinnert, das an sich selbst und seine Geschichte erinnert. Ja es ist einfach so: Das Individuelle wird vielen immer lästiger. Viele würden es am liebsten als altmodisch und von gestern verbieten. Bloß nicht durch einen zu starken individuellen Touch auffallen.

Und da dieses so ist, brauchen wir uns auch über die gigantische Stasi-Abhörbehörde von US-Präsident Barack Obama (Demokraten) aus den USA nicht wundern: Es ist doch eh alles öffentlich, denken immer mehr. Hätten Obamas Stasi-Terror-Methoden, sein unverschämtes und illegales Eindringen in die privatesten vier Wände, früher für einen Aufschrei auf den Straßen geführt hätte - bei Schülern und Studenten, erregt dies heute allenfalls noch die Generation 35+. Eben jene, die noch das Private und Individuelle, das Bücherregal bei den Eltern kennengelernt haben.

Ein Freund von mir gehört dazu. Er wagt es doch mit 38 Jahren allen Ernstes sich noch in seiner sonst durchaus modernen digitalen Wohnung Schallplatten ins Regal zu stellen. Da bin ich ihm voraus: Bei mir sind es wenigstens nur noch rund 200 DVDS im Regal. Doch auch da überlege ich schon, wie ich die loswerden kann, um nicht als altmodisch dazustehen. Denn der Tag wird kommen, so sicher wie das Amen, dass mir das jemand sagt wegen meinen vielen DVDs.

Früher galt das Motto: Eine Wohnung ist eine Wohnung wenn einer drin wohnt - möglichst lange. Ich kannte in Hamburg eine ältere Dame, die wohnte von 1936 bis zu ihrem Tod 2005 in ihrer Wohnung im Mühlenkamp in Winterhude. An den Fenstern hingen Rüschchengardinen, die Küche war vollgestopft - abwechselnd mit Meisner Porzellan (Zwiebelmustergeschirr) und billigem Kochbesteck oder irgendwelchen billigen Nicht-WMF-Töpfen aus den 1950er Jahren (in denen man aber auch kochen konnte). Als diese Oma starb, war es, als ob ein Geist dem Haus entflöge. Ein guter Geist. Ein menschlicher Geist. Ein Oma-Geist. Als die Wohnung entleert wurde, war es, als ob tausend Leben gingen, als ob tausend mal die Oma geht.

Manchmal frage ich mich: Was ist, wenn wir einmal gehen - aus unseren cleaned Büros, aus unseren cleaned Wohnungen? Wer bleibt, Was bleibt, wenn alles clean und digital ist?

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