250 Bewerbungen, 200 Absagen: Wenn der Fachkräftemangel ein Mythos in Deutschland ist

Entlassen nach der Probezeit, Depressionen und Selbstzweifel: Ein Akademiker erzählt vom Scheitern in einem System, das angeblich Fachkräfte sucht.

Traumatisch: Ein hochqualifizierter Mann kämpft um seinen Platz in der Gesellschaft – trotz Top-Leistungen erhält er nur Absagen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das KI-Bild wurde über Chat GPT generiert.

Philipp M. (Name geändert) hat alles richtig gemacht: Er hat Kommunikationswissenschaften an der Universität Leipzig mit 1,4 abgeschlossen, eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der Commerzbank in Frankfurt absolviert und während des Studiums in einem DAX-Konzern Praktika gemacht. Trotzdem steht er heute vor einem Scherbenhaufen.

„Ich habe in den letzten eineinhalb Jahren 250 Bewerbungen geschrieben“, erzählt er. „Darunter für Jobs im öffentlichen Dienst, als Social Media Manager, PR-Referent, Referent für digitale Medien und andere Positionen. 200 Absagen habe ich bekommen. Nur eine Zusage – und selbst die hielt nicht lange.“

Philipp bekam eine Stelle in einer PR-Agentur und bestand dort die Probezeit. Doch zwei Monate nach der Übernahme wurde er plötzlich entlassen. „Sie sagten, es gäbe Kundenrückgänge. Ich war völlig überrumpelt. Noch wenige Wochen zuvor hatte man mir gesagt, dass meine Arbeit großartig sei.“

200 Absagen: Eine Statistik der Ernüchterung

Von den 200 Absagen hat Philipp genau Buch geführt: 199 Personalreferenten waren Frauen, nur einer war ein Mann. „Ich habe den Eindruck, dass Frauen oft eher andere Frauen bevorzugen. Es wirkt nicht ausgewogen,“ sagt er.

Bei Vorstellungsgesprächen erlebte er ähnliche Verteilungen. „Wenn ich mit den Recruitern telefoniert oder an Vorab-Zoom-Runden teilgenommen habe, saßen fast immer nur Frauen am anderen Ende. In einigen Gesprächen vor Ort war die Verteilung ausgeglichener, aber eine reine Männer-Runde gab es nie.“ Dafür habe es aber häufig reine Frauen-Runden bei den Vorstellungsgesprächen gegeben.

Die Konkurrenz um die wenigen Stellen war gewaltig. „Einmal gab es über 400 Mitbewerber für ein Programm im öffentlichen Dienst. Selbst bei kleineren Ausschreibungen waren es oft 50 oder 200 Bewerber. Da fragt man sich irgendwann, ob das überhaupt Sinn ergibt.“

Der Mythos vom Fachkräftemangel

„Überall hört man, dass angeblich Fachkräfte fehlen. Aber ich frage mich, wo genau? Ich habe Top-Noten, Auslandserfahrung, Praktika – und trotzdem bekomme ich nur Absagen,“ sagt Philipp. Er sieht strukturelle Probleme:

„Im öffentlichen Dienst habe ich oft den Eindruck, dass die Stellen schon vergeben sind, bevor sie ausgeschrieben werden. Die Gespräche sind oft reine Formsache. Das ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern fühlt sich an wie Betrug an den Bewerbern.“

Er glaubt außerdem, dass die Nachfrage nach Kommunikationsberufen abnimmt: „KI wie ChatGPT ersetzt immer mehr Aufgaben. Die Industrie schrumpft, und Unternehmen sparen an Personal. Ich denke, die Entwicklung hat gerade erst begonnen.“

Entlassung nach der Probezeit: Ein Schlag ins Gesicht

Die Entlassung aus der PR-Agentur hat Philipp besonders hart getroffen. „Ich habe mich in der Probezeit wirklich reingehängt. Ich habe Überstunden gemacht, gearbeitet, bis nichts mehr ging. Und dann war alles vorbei.“

Die Kündigung kam ohne Vorwarnung: „An einem Freitag wurde ich ins Büro gerufen. Plötzlich hieß es: ‚Wir müssen uns trennen.‘ Keine Übergangszeit, keine Perspektive. Es war, als hätte ich von heute auf morgen den Boden unter den Füßen verloren.“

Er spricht nur zögerlich über die Details: „Ich will nichts sagen, was mir später schaden könnte. Aber es war ein Gefühl von Verlogenheit und Intrigen. Noch vor Kurzem wurde meine Arbeit gelobt, und plötzlich war ich überflüssig.“

Zudem erklärt er: "Ich saß in der Arbeitsagentur und sagte zur Sachbearbeiterin dort, dass ich mich selbst mit diesem Lebenslauf nicht erkenne. Arbeit hier, dann nach wenigen Monaten Freistellung, dann arbeitslos, dann Bürgergeld, dann wieder einige Monate arbeit. Das bin ich nicht. Ich will arbeiten, kriege aber keine Möglichkeit derzeit."

Seine Arbeitsagentur-Sachbearbeiterin versuchte ihm Mut zu machen: Es sei nicht mehr wie früher, heute sei es befristet hier, wieder arbeitslos, befristet da, Bürgergeld, Bewerbungsmarathon.

Depressionen und Zukunftsangst

Die vielen Absagen und die Kündigung haben Philipp in eine Krise gestürzt. „Ich habe Depressionen. Ich frage mich, ob all die Mühe – das Studium, die Praktika, die Nebenjobs – umsonst war. Soll ich mit Ende 30 wirklich nochmal komplett umsatteln? Ich habe noch fast 30 Arbeitsjahre vor mir und weiß nicht, wie ich die meistern soll.“

Die ständigen Absagen nagen an seinem Selbstwertgefühl. „Man sagt immer, es gäbe überall Fachkräftemangel. Aber wenn ich mich bewerbe, bekomme ich nur Absagen. Wie passt das zusammen?“

Philipps Geschichte ist kein Einzelfall

Philipp kennt viele Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Seine Nachbarin, Mitte 30, ist seit zwei Jahren ohne Job, obwohl sie viel Berufserfahrung im Marketing und Projektmanagement hat. Ein anderer Freund, der in London seinen Masterabschluss gemacht hat, fand in Deutschland keine Anstellung und arbeitet nun in Indien. Dort bringt er Pflegekräften Deutsch bei, die für den deutschen Arbeitsmarkt ausgebildet werden sollen.

Diese Beispiele zeigen, wie schwierig es geworden ist, in bestimmten Branchen Fuß zu fassen – trotz bester Qualifikationen.

"Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte"

Philipp bewirbt sich weiter – trotz der vielen Rückschläge. „Ich habe das Gefühl, dass Männer wie ich, Mitte 30, nicht mehr gefragt sind. Und ohne Vitamin B hat man es ohnehin schwer.“

Was bleibt, ist ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit: „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Wenn man ständig hört, dass man nicht gut genug ist, fängt man an, es zu glauben.“

NETZ-TRENDS wird Philipp auf seinem weiteren Weg begleiten und über die Herausforderungen am Arbeitsmarkt berichten. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht? Schreiben Sie uns: redaktionnetztrends@t-online.de.

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