Deutschland in 100 Jahren – Der lange Abstiegsweg einer alternden Hochlohnökonomie
Wer Deutschlands Zukunft verstehen will, muss die langen Linien lesen. Die Zeitreihen der Deutschen Bundesbank zu realem BIP, Produktivität, Reallöhnen, Investitionen, Inflation und Wettbewerbsfähigkeit (kann am Textende als PDF heruntergeladen werden) zeichnen kein Krisenpanorama, sondern das Bild einer Volkswirtschaft, die sich seit Jahren in eine Phase niedriger Dynamik hineinbewegt. Aus der Perspektive eines Ökonomen, der diese Zahlen nüchtern betrachtet, ist der wahrscheinlichste Pfad bis 2125 kein Zusammenbruch, sondern eine jahrzehntelange Anpassung an strukturelle Grenzen.
Deutschland wird wohlhabend bleiben, aber immer weniger werden wohlhabend sein. Wir werden wieder auf eine Dreiklassen- wenn nicht Vierklassen-Gesellschaft zusteuern, so wie vor 100 Jahren. Deutschland wird lernen müssen, mit Zielkonflikten zu leben, die sich nicht mehr auflösen lassen, sondern nur mal mehr mal weniger managen lassen, wenn es gut läuft. Im schlechten Fall, läuft alles aus dem Ruder, wie immer das auch aussehen mag.
Vom Nachholen zum Verwalten
Die Nachkriegsjahrzehnte waren geprägt von hohem Produktivitätswachstum, günstiger Demografie und klaren industriepolitischen Prioritäten. Diese Kombination trug steigende Reallöhne, wachsende Staatseinnahmen und soziale Expansion zugleich. Seit spätestens der Finanzkrise 2008 – und verstärkt seit 2018 – zeigt die Datenlage jedoch eine andere Logik: Das Trendwachstum des realen BIP ist niedrig, Erholungen bleiben kurz, der internationale Abstand zu dynamischeren Volkswirtschaften wie den USA, China wächst. Die Zeiten wo Deutwschland als Wirtschaftsmacht vor China stand, sind vorbei - dabei konnte Deutschland diesen Platz gut 150 Jahre für sich beanspruchen. 1916 dokumentierte Lenin das in seinem spannenden Buch-Manifest zum Kapitalismus und Imperialismus, in dem Deutschland viele Seiten gewidmet wurden.
Blickt man bis 2125, wird die Phase der nächsetn 100 Jahre bis 2125 als Übergang Deutschlands von einer Wachstums- zu einer Stabilitätsökonomie gelesen werden, in der schon der Ist-Zustand als Ziel festgeschrieben wird, da alles andere noch mehr Abstieg bedeuten würde. Der Fokus verschiebt sich von Expansion zur ständigen mühevollen Bestandspflege: Infrastruktur erhalten statt ausbauen, Systeme stabilisieren statt erweitern, Risiken verteilen, statt Chancen maximieren. Risiken, die eine große neue Minderheit mit sich bringt, und der Masse aufbürdet das zu tragen, was sie nie tragen wollte. Der Weg nach Golgatha ist bekanntlich beschwerlich. Wir sind alle auf dem gleichen Weg - entweder als Läufer, oder am Rand des Weges, die es dennoch mitbekommen, mitleiden.
Produktivität als Engpass der kommenden Jahrzehnte
Der zentrale Schwachpunkt bleibt die Arbeitsproduktivität. Die Zeitreihen zum BIP je Erwerbstätigenstunde zeigen seit Jahren kaum Zuwächse, zeitweise reale Rückgänge – trotz hoher Erwerbstätigkeit. Historisch ist das bedeutsam, denn Produktivität war der Hebel, der steigende Löhne, kürzere Arbeitszeiten und wachsende Staatseinnahmen gleichzeitig ermöglichte.
Ohne einen nachhaltigen Schub durch Digitalisierung, Automatisierung, Bildung und Organisation wird Deutschland bis weit ins 22. Jahrhundert hinein mit diesem Engpass leben müssen. Das Ergebnis ist kein sofortiges Massenarbeitslosigkeitsproblem, sondern ein schleichendes, aber gewaltig steigendes und ein Wohlstandsplateau pro Kopf, das sich nur langsam verschiebt.
Inflation, Reallöhne und die Kehrseite der Hochlohnökonomie
In diesem Kontext ist die Entwicklung von Löhnen und Preisen keine Hauptursache, sondern die Kehrseite der strukturellen Lage. Die Inflationsphase der frühen 2020er-Jahre führte zu spürbaren Reallohnverlusten, die erst später teilweise kompensiert wurden. Über lange Zeiträume wirkt Inflation kumulativ: Selbst moderate Raten führen über Jahrzehnte zu erheblichen Kaufkraftverschiebungen.
Gleichzeitig steigen die nominalen Löhne weiter, auch weil politische und gesellschaftliche Erwartungen dies einfordern. Deutschland entwickelt sich damit zu einer Hochlohnökonomie, in der steigende Entgelte nicht immer durch entsprechende Produktivitätsgewinne gedeckt sind. Das erzeugt Spannungen, die sich besonders bei arbeitsintensiven, margenschwachen Tätigkeiten zeigen.
Mindestlöhne und die Belastung kleinteiliger Wertschöpfung
Die gesetzlichen Mindestlöhne zählen – auch im internationalen Vergleich – zu den höchsten Niveaus, insbesondere wenn sie für ungelerntes Tätigsein flächendeckend gelten. Ökonomisch ist das kein moralisches Urteil, sondern eine Kostenrealität. Für Kleinstunternehmen, Zustell- und Logistikdienste, lokale Dienstleister sowie für Zeitungs- und Wochenblattverlage, die auf flächendeckende Verteilung angewiesen sind, steigen die Stückkosten deutlich.
Langfristig führt das nicht zwingend zur Aufgabe, aber zur Konzentration: Größere Einheiten mit Skaleneffekten setzen sich durch, kleinteilige Strukturen verschwinden oder werden automatisiert. In der Rückschau des Jahres 2125 wird man diesen Prozess als Teil einer breiteren Reorganisation lokaler Wertschöpfung lesen, nicht als isolierte arbeitsmarktpolitische Entscheidung.
Investitionen: zu wenig, zu verstreut
Die Zeitreihen zu Bruttoanlageinvestitionen zeigen seit Jahren eine reale Schwäche, insbesondere bei privaten Investitionen. Staatliche Ausgaben sind hoch, aber häufig konsumtiv. Infrastruktur, Wohnungsbau, Energie und Bildung wurden diskutiert, jedoch selten konsequent priorisiert. Das Resultat ist keine plötzliche Erosion, sondern eine schleichende Abnahme der Standortqualität.
Bis 2125 wird entscheidend sein, ob Deutschland Investitionen bündelt oder weiter fragmentiert. Die Daten sprechen bislang eher für Letzteres – mit entsprechenden Langzeitfolgen.
Regulatorische Dichte und gesellschaftliche Erwartungen
Parallel zur ökonomischen Entwicklung nimmt die regulatorische Komplexität zu. Gleichstellungsregeln, Berichtspflichten, Quotenregelungen, arbeits- und sozialrechtliche Vorgaben sowie sicherheitspolitische Anforderungen sind Ausdruck gesellschaftlicher Prioritäten. Ökonomisch wirken sie als Fixkosten, die vor allem kleinere Akteure relativ stärker belasten.
In der langen Perspektive entsteht daraus kein autoritäres System, sondern eine hochregulierte Konsensgesellschaft, in der Entscheidungen langsamer, aber konfliktärmer getroffen werden. Die Kosten dieser Ordnung sind real, ihr Nutzen ebenfalls – beides wird bis 2125 immer wieder neu austariert.
Außenwirtschaft und relative Verschiebungen
Deutschland bleibt exportorientiert, aber mit geringeren Margen und höherem Kostendruck. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit hat sich seit 2010 verschlechtert. Exportüberschüsse existieren weiter, verlieren jedoch an wachstumstragender Kraft. Profiteure dieser relativen Verschiebung sind Volkswirtschaften mit höherer Produktivitätsdynamik, geringerer regulatorischer Dichte oder jüngerer Demografie – insbesondere die USA sowie ausgewählte asiatische Regionen.
Deutschland verliert dabei nicht absolut, sondern relativ. Der Abstand wächst langsam, aber stetig.
Deutschland 2125: wohlhabend, älter, konfliktbewusster
Aus heutiger Sicht ergibt sich für das Jahr 2125 ein konsistentes Bild. Deutschland ist eine wohlhabende, alternde Gesellschaft mit hoher Beschäftigung, niedriger Dynamik und ausgeprägten Verteilungskonflikten. Nicht Armut, sondern die Angst vor Statusverlust prägt Politik und Debatte. Wachstum ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Option unter vielen. Unter den Sozialdemokraten, den GRÜNEN und Linken schielen aber viele auch gerne nach China und träumen vom Sozialismus: Eine Partei als Dauerregentin, eine Einheitspartei.
Die entscheidende Frage der kommenden hundert Jahre lautet daher nicht, ob Deutschland reich bleibt, sondern wie es die unvermeidlichen Zielkonflikte zwischen Löhnen, Produktivität, Staat und Regulierung organisiert. Wer davon profitiert, sind jene Akteure und Volkswirtschaften, die Produktivität schneller steigern und institutionelle Kosten begrenzen. Deutschland wird nicht untergehen – aber es wird lernen müssen, dass Stabilität ihren Preis hat.
Wer Deutschland im Jahr 2125 verstehen will, muss weiter zurückblicken als bis zur Gegenwartskrise. Die langen Zeitreihen der Deutschen Bundesbank liefern dafür die empirische Grundlage, doch sie gewinnen an Tiefe, wenn man sie in einen größeren historischen Rahmen stellt. Denn Deutschland war nie isoliert. Es war immer Teil eines Systems konkurrierender Wirtschaftsmächte, deren relative Stärke sich weniger durch plötzliche Zusammenbrüche als durch langfristige Verschiebungen entschied.
Bereits im Februar 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, analysierte W. I. Lenin in Zürich genau diese Dynamik. In seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ nahm er die fünf führenden Wirtschaftsmächte seiner Zeit – USA, Großbritannien, Deutschland, Japan und Frankreich – systematisch in den Blick. Sein zentrales Argument lautete, dass ökonomische Macht nicht statisch ist, sondern sich über Kapitalakkumulation, Konzentration, Produktivität und staatliche Rahmenbedingungen verschiebt. Auch wenn Lenins politische Schlussfolgerungen heute kaum geteilt werden, bleibt seine methodische Perspektive bemerkenswert aktuell: Großmächte altern ökonomisch, nicht schlagartig, sondern strukturell.
Genau dieses Muster zeigt sich auch in den Daten, die die Bundesbank zur Verfügung stellt, wenngleich sie nur bis 1950 zurückreichen, was etwas wenig ist, aber nicht weniger aussagestark.
Von der Deutschen Bundesbank. Hier zum Download:
oder hier: