
Eine im Fachjournal The Lancet Gastroenterology & Hepatology veröffentlichte Beobachtungsstudie stellt die bisher weitgehend ungetrübte Euphorie über den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin infrage. Darauf macht der Science Media Centre aufmerksam.
Demnach könnte die routinemäßige Nutzung von KI-Systemen bei Darmspiegelungen (Koloskopien) langfristig zu einem messbaren Verlust an diagnostischen Fähigkeiten bei erfahrenen Fachkräften führen – mit möglichen Folgen für die Krebsvorsorge.
Untersucht wurden mehr als 1.400 Koloskopien an vier polnischen Endoskopiezentren zwischen September 2021 und März 2022. Dort war Ende 2021 ein KI-System eingeführt worden, das Endoskopiker beim Erkennen von Adenomen – also potenziell krebsgefährlichen Vorstufen im Dickdarm – unterstützt. Während in der Anfangsphase Koloskopien teils mit, teils ohne KI durchgeführt wurden, zeigte sich nach einigen Monaten ein deutlicher Unterschied:
Bei nicht KI-unterstützten Untersuchungen sank die Adenom-Erkennungsrate erfahrener Ärzte von 28,4 % vor der Einführung auf 22,4 % danach – ein relativer Rückgang von 20 %. Zum Vergleich: Mit KI lag die Erkennungsrate bei 25,3 %.
„Soweit wir wissen, ist dies die erste Studie, die einen negativen Einfluss von KI auf die Fähigkeit von Fachpersonal belegt, eine für Patienten relevante Aufgabe in der Medizin zu erfüllen“, sagt Studienautor Dr. Marcin Romańczyk (Academy of Silesia, Polen). Der Effekt könne bedeuten, dass sich Endoskopiker zu sehr auf die algorithmische Unterstützung verlassen – mit der Folge, dass grundlegende Fertigkeiten schwinden.
Unterstützt wird diese Einschätzung durch Prof. Yuichi Mori (Universität Oslo), der die Ergebnisse als möglichen Erklärungsansatz dafür sieht, warum frühere Studien mit KI teils bessere Werte lieferten: In solchen Untersuchungen könnten die Leistungen ohne KI bereits durch den vorherigen Dauergebrauch beeinträchtigt gewesen sein.
In einem begleitenden Kommentar mahnt Dr. Omer Ahmad (University College London) zur Vorsicht: „Die Ergebnisse dämpfen die derzeitige Begeisterung für den raschen Einsatz KI-gestützter Technologien und zeigen, dass unbeabsichtigte klinische Folgen sorgfältig bedacht werden müssen.“
Der Effekt sei zwar noch nicht abschließend verstanden, stelle aber die Frage, wie sich KI im Dauerbetrieb auf Lern- und Entscheidungsprozesse auswirke.
Die Autoren betonen, dass es sich um eine Beobachtungsstudie handelt – andere Faktoren könnten also mitgewirkt haben. Zudem nahmen nur sehr erfahrene Endoskopiker teil, sodass offen bleibt, ob weniger routinierte Ärzte noch stärker betroffen wären. Romańczyk fordert deshalb weitere Untersuchungen, um Risikofaktoren für Kompetenzverlust zu identifizieren und Schulungsstrategien zu entwickeln, die eine gesunde Balance zwischen technischer Unterstützung und eigenständiger Leistung sichern.
Hintergrund: Koloskopien gelten als Goldstandard der Darmkrebsprävention. Das rechtzeitige Erkennen und Entfernen von Adenomen kann eine spätere Krebsentwicklung verhindern – eine Aufgabe, bei der Präzision und Erfahrung bislang als entscheidend gelten.