Zu "anekdotisch" Recht auf Vergessen: Rechts- und Internet-Gelehrte kritisieren Google in Offenem Brief

Nun positioniert sich eine Gruppe von internationalen Internet-Gelehrten und Rechtswissenschaftler kritisch gegen Google, schreibt das zu Verizon gehörende Technik-Portal techcrunch.com. Demnach forderten die Gelehrten Google detailliert und recht scharf auf, "mehr Transparenz über ihre Entscheidungsprozesse in Bezug auf die Umsetzung bezüglich des in Europa geltenden ‚Rechts auf Vergessen‘ walten zu lassen".

Quelle: techcrunch.com
Auszüge aus dem Offenen Brief an Google.

Auch wenn die Google Inc. im Bereich des vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgegeben Zwangs, vor allem bei Privatpersonen Web-Links zu hetzerischen oder längst vergangenen Berichts-Umständen zu löschen, gibt es nach wie vor Kritik.

Vor gut einem Jahr hatte der Europäische Gerichtshof Google Vorgaben gemacht, seine Suchmaschine nicht als öffentlichen Pranger verkommen zu lassen, sondern viel stärker als bislang Bürger- und Persönlichkeitsrechte vor allem von Privatbürgern stärker zu beachten. Bürger hätten, so das mächtige europäische Gericht, ein Recht auf Vergessenwerden im Internet, also ein "Right to be forgotten" (RTBF).

Seit dem hohen Gerichtsurteil hatte die Google Inc. von Privatleuten oder beauftragten Rechtsanwälten 250.000 Löschanträge erhalten. In rund 40 Prozent soll Google den Löschanträgen nachgekommen sein. Doch bleiben immer noch gewaltige 60 Prozent, wo Google sich scheinbar recht willkürlich das Recht herausnimmt, Anträge auf Löschung von Daten zu ignorieren.

Doch was die Gründe für die Ablehnung eines Löschantrags sind, darüber schweigt sich Google gerne ausgiebig aus, beziehungsweise versucht die Betroffenen oder die Öffentlichkeit mit Allgemeinplätzen zu beruhigen. Genau dies stört zunehmend Internet-Gelehrte und Rechtswissenschaftler.

Abwägen ja, aber nicht Willkür und Polit-Büro-Gehabe

Eine Gruppe sagt nun, sie könnte verstehen, dass Google gewichten müsse, zwischen den Erfordernissen einer unabhängigen Suchmaschine, welche abzuwägen habe zwischen bürgerlichen Rechten und einem öffentlichen Interesse an Information. Dem stünde aber bislang immer noch mangelnde Transparenz im Wege, wovon Google im Einzelfall eine Entscheidung tatsächlich abhängig mache, warum ein Löschantrag abgewiesen werde.

Heißt im Klartext: Google sei nach wie vor zu willkürlich. Das öffentliche Interesse am Recht auf Vergessen werde immer noch nicht so erfüllt, wie es der Europäische Gerichtshof vorgegeben habe, sind die Gelehrten überzeugt. So sagten sie: Bislang bewege sich Google in seinen Mitteilungen bezüglich der Ablehnung von Löschanträgen lediglich im Bereich des "anekdotischen". Das mache es aber für Außenstehende unmöglich, eine Entscheidung nachzuvollziehen und gegebenenfalls dagegen vorzugehen. Dies sei aber nicht akzeptabel, da Google in Europa im Suchmaschinen-Bereich des Internets eine mit rund 90 Prozent Marktanteil den Markt beherrschende Stellung habe.

In dem offenen Brief an Google schreiben nun 80 Unterzeichner, darunter hohe Gelehrte von über 50 Universitäten und Institutionen, warum ihrer Überzeugung nach mehr Daten erforderlich seien als bislang, um zu beurteilen, wie Google das Recht auf Vergessenwerden umsetze und die geltende Gesetzeslage pro-Privatsphäre berücksichtige.

In dem offenen Brief an Google schreiben die Internet-Gelehrten und Rechtswissenschaftler:

"Jenseits Ihrer Argumentations-Anekdoten, wissen wir sehr wenig über das, was die Art und Menge der Informationen betrifft, welche sie aus den Suchergebnissen auslisten. Wir wissen zu wenig, welche Quellen ausgelistet werden und in welchem Umfang. Wir wissen zu wenig, warum eine Lösch-Anforderung fehlschlägt und warum und in welchem Zusammenhang dieses mit den Richtlinien von Google in ein Gleichgewicht zu bringen ist, zwischen dem Recht auf Privatsphäre und den Interessen der Meinungs- und Informationsfreiheit."

Weiter führen die Wissenschaftler aus, wonach sie darauf hinweisen, dass sich nicht alle Unterzeichner des Offenen Briefs an Google in jedem Punkt einig seien, wohl aber Einigkeit darüber bestehe, dass Google erheblich mehr Transparenz gewährleisten müsse beim Recht auf Vergessen, als bislang:

"Wir alle glauben, dass die Umsetzung des Urteils viel transparenter sein muss und zwar aus mindestens zwei Gründen: (1) die Öffentlichkeit sollte in der Lage sein, herauszufinden, wie digitale Plattformen ihre enorme Macht ausüben im Bereich der leicht zugänglichen Informationen; und (2). Zudem sind wir überzeugt, dass die Öffentlichkeit stärkeren Einfluss auf die Umsetzung der Entscheidung über die Zukunft des RTBF [Right to be Forgotten] in Europa und anderswo haben sollte. Ganz allgemein geht es uns darum, die weltweiten Bemühungen um Datenschutzrechte mit anderen Interessen der Datenflüsse transparenter in Einklang zu bringen."

Außerdem kritisiert die Gruppe Gelehrter namentlich Peter Fleischer, den Google Global Privacy Counsel und zwar bezüglich seiner Äußerungen auf den 5. Europäischen Datenschutztagen am 4. Mai 2015. Hier hatte Fleischer gesagt, wonach Google "im Laufe der Zeit ein reichhaltiges Programm der Rechtswissenschaft bezüglich der [RTBF]-Entscheidung" aufbauen werde (siehe: Bhatti, Bloomberg, 6. Mai).

Rechtsgelehrten von Oxford oder Cambridge kritisieren Google

Doch genügen diese Äußerungen von Peter Fleischer offensichtlich nicht den Rechtsgelehrten. Sie sagten, wonach das von Google angeblich im Aufbau befindliche Programm der Rechtswissenschaft zum Recht auf Vergessenwerden zu sehr in der Dunkelheit aufgebaut werde. Allgemeinplätze, welche Fleischer zum Recht auf Vergessen angeführt habe, wie dass Google keine Verleumdung von Bürgern im Netz akzeptiere, seien zu grob und bedürften wesentlich mehr Diskussionen, Hintergrund-Beleuchtungen und Substanz.

Zu den Unterzeichner des Offenen Briefs an Google gehören unter anderem Ian Brown, Professor für Informationssicherheit und Datenschutz an der University of Oxford (Oxford Internet Institute), Lilian Edwards, Professor für Internetrecht an der University of Strathclyde, David Erdos, Dozent der Rechtswissenschaften und der Open Society an der University of Cambridge (Rechtswissenschaftliche Fakultät), John Naughton, Professor am Wolfson College an der University of Cambridge. Hinzu kommen Unterzeichner wie Peggy Valcke, Professor für Recht und Leiter Research der KU Leuven.

Die Gelehrten fordern unter anderem von Google, dass es bei RTBF-Löschanfragen beispielsweise klarerer Kategorien geben solle, in welchen der Antragsteller einerseits seinen Antrag stelle, aber auch Google begründen müsse, warum man einen Löschantrag ablehne. Das könnten Punkte sein wie eine angebliche Verleumdung, aber auch Argumente, dass Berichte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beträfen und deshalb eher schwer zu löschen sein könnten.

Teil Zwei könnte auch das Recht auf Vergessen für Prominente betreffen

Dabei müsse aber Google stärker begründen, wer denn nun eine Person von Öffentlichem Interesse, beziehungsweise eine Person des Öffentlichen Lebens sei und wer nicht. Hilfreich könnten beispielsweise umfangreiche Porträts in Wikipedia zu Entertainern, Politikern oder Beamten sein. Allerdings gilt hier: Solche Porträts kann faktisch jeder Wikipedia-Admin anlegen – auch 20-Jährige Schüler. Deshalb ist ein Wikipedia-Eintrag letztlich auch nicht unbedingt ein Gradmesser dafür, ob eine Person nun tatsächlich eine Person des Öffentlichen Lebens (dauerhaft) ist.

Doch ob Privatbürger oder Prominente: Auch in Bezug auf Personen des Öffentlichen Lebens gerät Google zunehmend im Bereich des Rechts auf Vergessens im Internet unter Druck: Was ist beispielsweise mit uralten Hetz-Artikeln von politisch motivierten Medien oder Blogs, welche gezielt Hetz-Artikel gegen national bekannte oder lokal bekannte Personen ins Netz stellen, um eine möglicherweise durch Google einem Blog eingeräumte starke Präsenz in Google gezielt ausnutzen, um negative Artikel zum Schaden von Privatbürgern, bekannteren Personen oder Unternehmen ins Netz zu stellen?

Doch ist auch dieser Bereich des Rechts auf Vergessen komplexer. Denn auch hier steht Google selber im Zentrum des möglichen Problems, vor allem der Google-Algorithmus. Denn er rankt eindeutig negative Inhalte erheblich besser, als positive, selbst dann, wenn diese negativen Artikel teils Jahre alt sind. Beispiel: Der langjährige Landtagsabgeordnete (MdL) der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag, Dr. Volker Külow. Hier hatten die rechts-konservativen Medien Bild-Zeitung und Die Welt (beide Publikationen der Axel Springer SE) recht hetzerische Artikel gegen Külow verfasst – vor Jahren.

Google-Algorithmus rankt Negatives besser als Positives: Das wissen Journalisten oder Blogger und missbrauchen dies zuweilen vorsätzlich

Doch Google rankt, obwohl es mehrere auch positive oder neutralere Artikel zu Volker Külow gibt, seit Jahren die negativen eher hetzerischen Welt- und Bild-Artikel zu Külow teils gleich auf Seite 1 oder 2 von Google. Google argumentiert in solchen Fällen bislang, wonach man keinen Grund sehe, hier etwas zu ändern. Gleichzeitig stigmatisiert aber Google mit einem solchen Algorithmus Menschen (oder Unternehmen) teils möglicherweise lebenslang mit Dingen, die längst überholt sind, aber die Betroffenen in ihrem beruflichen Leben und ihrer beruflichen Existenz massiv gefährden können.

Auch deshalb dürfte sicherlich in Akt zwei des Spiels "Machtmissbrauch von Google", ebenso das Recht auf Vergessenwerden auf Unternehmen oder Prominente ausgeweitet werden. Google könnte dem aber zuvor kommen, indem es seinen Such- und Treffer-Algorithmus etwas anpasst, und bei alten Artikeln eine gewisse Verjährung einführt, um ältere negative Artikel "automatisch" weiter nach hinten rutschen zu lassen, um auch betroffenen Unternehmen oder Personen des Öffentlichen Lebens oder Interesses eine Chance auf Neuanfang mit neuen Themen zu geben.

Die Internet-Gelehrte schlagen zumindest den Privatbürgern vor, dass Google im Minimum 13 Kategorien einführen solle, welche das Recht auf Vergessen (RTBF Anfragen) umfassten sollten. Dazu gehörten Gesundheitsinformationen, aber auch von den Betroffenen unerwünschte Internet-Einträge mit Anschriften und Telefonnummern, intime Angaben oder Informationen, welche älter als eine bestimmte Zeit sind.

RTBF-Anträge sollten vorerst 13 Kriterien betreffen

Weitere kritische Punkte die bei einem RTBF-Antrag zu löschen seien, beträfen die Punkte: Opfer einer Straftat, Minderjährige, Beklagte, welche später freigesprochen werden oder wo die Staatsanwaltschaft entweder dann doch keine offizielle Anklage erhoben habe oder das Gericht der Anklage nicht stattgegeben habe. Zudem müsse Google Beiträge zu Bürgern löschen, die sie in politische Meinungs-Zusammenhänge rückten, welche sie aber möglicherweise aktuell gar nicht mehr vertreten würden.

Außerdem müssten Beiträge beim Recht auf Vergessen gelöscht werden, welche Menschen lediglich mit einem Zitat berücksichtigten, der Zitat-Geber sich aber später mit dem Zitat nicht mehr identifiziere. Weitere wünschenswerte Lösch-Kriterien seien Internet-Berichte oder Postings zum persönlichen Sexualleben oder Verwicklungen in vergangene Kriminalitäts-Verfehlungen.

Die Rechts-Gelehrten und Internet-Gelehrten fordern weiter: Besonders wenn einem Antrag auf Löschung von Informationen durch Google nicht stattgegeben werde, müsse Google sehr klar darlegen, warum man meine, dass betroffene Bürger es hinnehmen müssten, dass möglicherweise auch noch nach Jahren beispielsweise auf den ersten Seiten von Google Beiträge den Bürger betreffend prominent gefunden werden müssten.

Wichtig ist den Internet- und Rechtsgelehrten ferner, dass Google nicht nur Internet-Beiträge in der Suchmaschine unauffindbar mache, sondern ebenso in sozialen Netzwerken. Dies betreffe aber professionelle Medien ebenso wie klassische Social Media-Foren oder offizielle öffentliche Aufzeichnungen.

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